Marion Kemmerzell




Sie glaubt zu träumen. Dann ist sie wach. Dann weiß sie nicht mehr, ob sie wach ist oder träumt. Sie fliegt, nein falsch: sie wird geflogen, nein, auch nicht richtig: man schleift sie durch die Luft. Ganz hoch hinauf und über allen Wipfeln ein Tosen.

***

Dass ihr Mann nach dem dritten Satz Walburgas gegangen wäre, dachte Anne. Aufgestanden und höflich, aber bestimmt sein Bedauern zum Ausdruck gebracht hätte. Unter Psychologie und Lebenshilfe habe er sich etwas anderes - es sei sein Fehler - sie möge ihm die Rechnung für den Termin zusenden.
Aber er wäre natürlich gar nicht erst hergekommen.
Sie wollen ein Kind, sagte Walburga.
Es war November. Hinter den Mondglasscheiben wurde es schon dunkel. Rechts und links verschlungenes Blattwerk in samtenen Übergardinen.
Ja, sagte Anne. Woher wissen Sie...?
Schließen Sie die Augen, sagte Walburga. Legen Sie sich hin.

Aus: Windsbräute

***

 

Da hockt Otto, wie ich ihn verlassen habe. Mit verkrampft an den Bauch gezogenen Beinen sitzt er im cremefarbenen Sessel, während sein Oberkörper entspannt und leblos über der Lehne hängt. Sein Blick verliert sich in der mit girlandenschwingenden Putten durchklöppelten Spitzengardine.
"Oh Gott, oh Gott" sage ich, "du musst sofort den Notarzt rufen, Adolphine."
Obwohl ich weiß, dass Otto mausetot ist.

Aus:
Arthur

***




Fotos Margitta Hubmer
Wie Steine haben sie im Septembergras gelegen.
Harzgeruch, sirrende Insekten, die Nähe der Sümpfe.
Stunden.
Bis der Boden zu vibrieren begann unter den Tritten der anmarschierenden Römer. Drei Legionen - 25 000 Mann - 1000 Mann pro Kilometer Truppenkolonne. Das Schnaufen, der Schweißgeruch, die von den Metallplatten der Harnische verstreuten Sonnenstrahlen. Fast alle trugen die Helme an den Gürteln wegen der Hitze.
Und sie selbst sind wie Steine gewesen.
Mehr als zwölftausend achtlos vorüberstampfende Soldaten lang.
Dann hat er den Bogen gespannt.

Aus:
Arminius

***



"Transzendenz", sagt jemand hinter mir.
Es hört sich an, als sei der schwer erkältet.
"Das Übersteigen von Grenzen. Erfahrungs- und Bewusstseinsgrenzen."
Außer einem rabenschwarzen Raben ist niemand zu sehen. Ein Kolkrabe. Corvus corax. Der weltweit größte Rabenvogel. Größer als ein Bussard.
"Korrrk", macht das Tier. Es kommt auf mich zugewankt. Die mangelnde Eleganz verdankt sich den fehlenden Kniegelenken. Als müssten wir leicht vorgebeugt mit steifen Beinen gehen. Jetzt hüpft es lieber beidfüßig, breitet die Flügel mit den wie Finger abstehenden Federn der Handschwingen, stößt sich in die Luft und schwebt auf den nächsten Grabstein. Sein Gefieder schillert grün und violett, während es die Flügel wieder einfaltet.
"Transzendieren", meint es mit rollenden Errrs, schiebt mir seinen Schnabel entgegen und spreizt die Kehlfedern, "von einem Bereich in einen anderen hinübergehen." Es dreht den Kopf, um mich im Auge zu behalten. "Möchtest du, dass ich dir den Begriff veranschauliche?"
Ich weiß nicht recht. Vielleicht bin ich ja gerade eben von allen guten Geistern verlassen worden.

Aus: Romantik