Marion Kemmerzell





Aus der Melusine - Heft 1 - Juni 2011 Seite 36-37

Abel oder der Untergang des Himmels
Unterhaltungsliteratur von Niveau und Literatenliteratur der Postmoderne

An Fiktionalem mangelt es wahrlich nicht bei Marion Kemmerzells Abel oder der Untergang des Himmels: Dracula, der Highlander - wie man weiß, sterben sie nie (oder erleben die Auferstehung im Sequel). Man gewinnt beim Lesen zunehmend den Eindruck, dass Kemmerzells Titelfigur zum gleichen Geschlecht gehören könnte, besonders wenn von kalkweißen Zähnen, rötlichem Haar, blut-orange-roten Lippen die Rede ist. Aber dann ist's doch noch ein bisschen anders ... Und wie bei allen Texten, bei denen man gespannt der Auflösung entgegenliest, hat der Rezensent die Pflicht, darüber zu schweigen.
Ansonsten: was passiert? Die Kindergärtnerin Lisbeth begegnet auf einer Party dem Mann ihrer Träume - Abel Albrecht. Er geht auf sie zu, sagt provokant-erotische Worte und sie verfällt ihm rasch, verfällt ihm so sehr, dass sie sich allem fügt, was er veranlasst oder tut. Zwar spürt sie schon sehr bald seine Dominanz, gepaart mit Eifersucht in den lächerlichsten Fällen, aber seine bloße Präsenz betört sie. Sie besucht ihn in Mainz, wo er eine kunstverständige Domführung für sie veranstaltet, sogar über Altarbilder spricht, die seit Jahrhunderten nicht mehr dort hängen. Dann ziehen sie zusammen, in eine extrem teure Wohnung, für die Lisbeth vorläufig Kaution und Miete auslegt und sich verschuldet. Was er beruflich tut, ist nicht ganz klar. Er plant eine Galerie, diese bekommt Lisbeth jedoch nicht zu Gesicht, die Eröffnung schleppt sich hin. Auch sonstige Sonderlichkeiten scheint die junge Frau nicht zu bemerken, etwa, dass Abel zunehmend seltsam formuliert, mehr und mehr sind seine Sätze durchsetzt von Barockdeutsch, passend zu den Inhalten seiner Erlebnisschilderungen. Schließlich bleibt er nächtelang weg, versetzt sie aber bei Wiedererscheinen in einen erotischen Taumel, der sie allen Kummer verdrängen lässt. Man fragt, wie sich dieses Maß an Masochismus erklärt, stellt aber dann fest, dass Abel es mit weiteren Geliebten ebenso treibt und sie zugrunde richtet. Und daraus ergibt sich nun ein immer dramatischerer Wettlauf um die Rettung der verlorenen Frauenseele(n), bei der auch gutwillige Helfer/innen zunehmend versagen. Der immer schemenhafter präsente Abel trickst auf geradezu magische Weise alle aus, bis hin zu Morden, denen in einem Falle ein überraschendes Motiv zugrunde liegt. Zuletzt erfährt Lisbeth in einer Art Traumvision endlich, woher er kommt.
Zugegeben, das klingt wie ein Psychothriller mit Fantasyelementen. Aber die Story ist nicht nur auf geläufige Weise spannend, sondern auch in ihrer souveränen Behandlung verschiedener Sprachebenen, im allmählich sich verdichtenden Einsatz von Motiven und Zeitsprüngen ein recht gelungenes Stück Prosa, das sich neben so manchem deutschlandweit beachteten Gegenwartsroman nicht zu verstecken braucht. Das Buch ist beides zugleich: Unterhaltungsliteratur von Niveau und Literatenliteratur der Postmoderne. Doch über das Postmoderne zu reden, hieße schon wieder, etwas vom Schluss zu verraten.

Dr. Dirk Walter