Marion Kemmerzell

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Gestern, im Jahr 634 - Leseprobe 3


Honorius   (Buchseite 252)

Nun bin ich – unbestreitbar – ein alter Mann. Der Papst Honorius, der meinen Namen mit Anstand trug, lebt nicht mehr seit über zwanzig Jahren. Das Gesicht, welches mir aus dem glatten Wasser meines Fischteichs entgegensieht, entzückt mich keinesfalls, so wie Narcissus das seinige entzückt hat. Ich sehe weißes Haar, das, wie mir scheint, mit letzter Kraft auf meinem Kopf ausharrt, meist struppig ein langgezogenes, gefälteltes Oval umstehen. Ich sehe einen Greis.

Die Dauer des menschlichen Lebens ist ein Augenblick, das Wesen ein beständiger Strom, die Empfindung eine dunkle Erscheinung, der Leib eine verwesliche Masse, die Seele ein Kreisel, das Schicksal ein Rätsel, der Ruf etwas Unentschiedenes, schreibt Marc Aurel.

Man liest so etwas in der Jugend, man nickt, ein ferner Ruf, der kaum das eigene Leben zu betreffen scheint, so weitgespannt und beinahe endlos, wie es sich anfühlt.

Der Tod all derer, mit denen ich mein Leben geteilt, die ich geliebt oder gehasst habe, ist nun gegenwärtig. Manchmal empfinde ich Zorn, alleine zurückgelassen worden zu sein, doch wünsche ich auch nicht, ihnen gar zu bald zu folgen. Ich denke, dass nur diejenigen, die große Schmerzen leiden, oder diejenigen, die ganz dem Christengott vertrauen, bereit sind, diesem Leben ohne Aufschub zu entsagen, dass alle anderen, so wie ich, noch gerne ein Jahr, zumindest einen Monat oder eine Woche oder wenigstens den nächsten Tag erleben möchten.

Jetzt ehren mich die Kinder derer, die wir zu Grabe trugen, mit ihrer Freundschaft. Gestern war ich zu Gast bei Herzog Adalgisel, dem Sohn der Ermengundis – wie lange ist es her, dass Oda diese Kinder aus Trier nach Metz hat holen müssen – beinahe 60 Jahre, denke ich. Ermengundis, die damals schon so schön war, und Grimo auf seinen dünnen Beinen, die dann tapfer neben mir den Weg bis nach Verdun gelaufen sind, wohin er eigentlich doch gar nicht wollte. Ach Grimo, auch du bist aus der Zeitlichkeit gegangen! Es fällt mir schwer, dir das nicht zu verübeln. – Anlässlich der Feiern zu Chlodwigs Hochzeit mit Bathilde in Paris saßen wir uns bei Tisch noch gegenüber. Ich neckte ihn mit seinem Alter angesichts des jungen Paars: Chlodwig, der Sohn, den König Dagobert mit Königin Nanthilde hatte, gerade 16 Jahre alt und seine Braut kaum älter. Und Grimo lächelte mich an, der ich doch mehr als ein Decennium älter war als er, so weise, wie nur Grimo lächeln konnte, wir lachten beide, und er gestand mir, dass er Vater einer Tochter sei, so alt jetzt wie der junge Chlodwig. Und diese Tochter, die er nach seiner Schwester hatte nennen dürfen, lebe nun im Haushalt Herzog Adalgisels, Ermengundis’ Sohn. Ich freute mich für ihn. . . . . Wir schwadronierten, als seien wir dabei gewesen. Wahrscheinlich schwadronierte ich, und Grimo lächelte. Dann trauerten wir beide um seine Schwester Ermengundis, die uns zu früh verlassen hatte, und sprachen über Bischof Moduald, der auch, doch erst vor kurzer Zeit, gestorben war. Ich redete, und Grimo lächelte, und wir versprachen uns ein Wiedersehen bald – und dann vergingen Jahre, und Herzog Adalgisel sandte einen Boten, sein Onkel Grimo sei im Kloster Tholey, im Garten, während einer lauen Nacht, zu Gott entschlafen.
Ich war sehr zornig auf Grimo und auf mich und Gott. Und auf die eine Parze, die Morta, der es gefallen hatte, seinen Lebensfaden zu durchtrennen.

Nun also gestern – welch ein schöner Tag!

Ich kenne Herzog Adalgisel seit einem Treffen im Haus der Oda, vielleicht im 10. Jahr des Königs Dagobert. Adalgisel, ein junger Mann damals, den ersten Flaum am Kinn, ließ mich nicht nur der Namensgleichheit wegen an seinen Onkel Grimo denken. Und Oda war bezaubernd, so wie immer, niemand konnte ahnen, wie bald sie von uns gehen würde. – Seit diesem ersten Treffen sah ich Adalgisel, dem bald darauf von Dagobert die Herzogswürde verliehen wurde, bei mehreren Gelegenheiten. Er zumeist in wichtiger Funktion, ich als einfacher Beobachter, doch grüßten wir uns immer freundschaftlich und herzlich. Bei seiner Hochzeit war ich, der Älteste, derjenige, der seine Frau zum Tanzkreis führte, die wenigen Bewegungen dahin sind mir, weil man ja immer noch geschmeidig scheinen möchte, als Prüfung im Gedächtnis. –

Nun, gestern trat ich in den herzoglichen Garten, der an die Hauptstadtmauer grenzt, das Tor der Villa stand weit offen, Adalgisel kam mir entgegen, nahm mich in die Arme und sprach von seiner großen Freude, mich zu sehen. Ich weiß, er sah mich eher als Vertretung der geliebten Dahingegangenen, doch ich war trotzdem gerührt und dankbar. Er löste sich von mir, er wies zur Seite. Dort in den Strahlen der späten Sonne schwebte eine Frau, zu der er Ermengundis sagte. Ich hätte sie erkannt, auch ohne Nennung ihres Namens. Sie gleicht ihrer Tante Ermengundis und ähnelt ihrem Vater Grimo. Und doch erschien sie mir wie einer dieser Geister aus Luft und Schönheit. An ihren Rock geklammert stand ein Knabe, vier oder fünf Jahre alt. Mein Sohn Adregisel, sagte Herzog Adalgisel, er wird tapfer für den König streiten, doch sollte er das wünschen, kann er natürlich auch der Kirche dienen, wie sein Onkel. Er kniff ihm in die Wange, das Kind sah neugierig zu uns auf, dann gingen wir ins Haus und tafelten und lauschten einem Sänger aus Alamannien, der lange Lieder von Edlen, Königen und Heiligen und ihren Heldentaten vortrug. Der kleine Adregisel hing an seinen Lippen, weit aufmerksamer, als ich das von Kindern seines Alters kenne, und als ihn Ermengundis – es war schon spät – zu Bett zu bringen suchte, schien er ganz verzweifelt und bettelte so lange, bis der Sänger ein zweites Mal eins dieser endlos langen Lieder deklamierte, eines, in dem besonders viele Kämpfe nach Art der alten Griechen in Verse eingegossen waren.
Dann ließ sich Adregisel klaglos, wenn auch ungern, wie man ihm ansah, aus dem Raum führen, und Herzog Adalgisel und seine Gäste bemühten sich um mich. Sie sprachen laut, damit auch meine alten Ohren den Gesprächen folgen konnten, sie fragten mich nach meiner Meinung . . . .
Ich sagte, da das Verhalten Grimoalds von Eigennutz bestimmt und anzunehmen sei, dass er auch den Tod des Sigibert verschuldet habe, sei der Gerechtigkeit durch seinen Tod gedient. Und dass ich Königin Bathilde von Herzen den Beistand dessen und all derer wünsche, die um der Menschen Wohl in Sorge seien. Ich sprach von Gott und seinen Engeln und Heiligen und all denjenigen, die uns mit ihnen in Verbindung brächten. Man lächelte. Man wusste um meinen Glauben an die Ahnen und die alten Götter. Ich hatte Freiheiten als Greis und unter Freunden.
Ich sagte: Pippin, der Sohn der Begga und des Ansegisel – ihr solltet auf ihn achten.

Dann schwieg ich still und hörte, was es von den Völkern im Osten zu berichten gab. . . . .

In Alamannien saß der Leuthari noch fest im Sattel, wenn man dem Sänger Glauben schenken wollte, und warum sollte man das nicht tun? Leuthari hatte Otto ermorden lassen, um Grimoald das Amt des Majordomus zu ermöglichen. Ein Gerücht, wie viele andere, doch durchaus überzeugend. Nun, ohne Grimoald war für den Allamannenherzog hier nichts mehr zu holen, und er versuche, hieß es, sein Reich nach Norden auszudehnen, weshalb sich Herzog Adalgisel dafür aussprach, die fränkischen Verwaltungshöfe an Rhenus und Moenus zu festigen. Leuthari sei bei seinem Volk nicht sehr beliebt, erklärte uns der Sänger, doch herrsche er mit einer Grausamkeit, die es niemandem ratsam erscheinen lasse, sich mit ihm anzulegen.

Ich stand vom Tisch auf, um, wie alte Männer dies öfter tun müssen, mich im Locus zu erleichtern, auf dem Rückweg traf ich am Treppenabsatz dies Geschöpf aus Luft und Schönheit, das mich bat, ihm von seinem Vater Grimo zu erzählen.
Ich war betrunken, der Mond hüllte sie in einen Silberschein, sie legte ihre Hand auf meinen Arm – ihr Vater sei ein Heiliger gewesen, sagte ich. Zu den einzigen Verfehlungen seines Lebens hätte ich ihn verführt in frühester Jugend. Das wollte sie genauer wissen, und ich erzählte ihr von Metz bei Nacht, dem Hahnenkampf, dem Monster Grendel, dem Mädchen, das man Grimo in der Spelunke angeboten hatte. Und dass sie ihm zu jung gewesen sei, und dass er zu viel süßen Mulsum getrunken hatte, weil ich nicht achtsam war, und wie übel ihm daraufhin sein Essen aufstieß, und wie Oda uns verachtet hatte. Sie lachte, es klang wie zarte Glocken in meinen Ohren, ich lachte mit ihr. Es muss noch weitere Verfehlungen gegeben haben, flüsterte sie dann, sonst stünde ich nicht hier. Bei allen Göttern!, rief ich aus, dann mäßigte ich meinen Ton. Niemals – und dass dies mit ein Grund sei, warum die Kirche Christi mir abstrus und welt- und gottesfern zu sein scheine – niemals könne Handeln, das zum Leben eines Menschen führe, es sei denn, man hätte mit Gewalt gehandelt, Verfehlung oder Sünde genannt werden. Sie stünde engelsgleich vor mir, sie sei ein Wunder, ich würde, wenn meine steifen Knie es mir nicht beinahe unmöglich machten, vor ihr und ihrem Vater niedersinken aus Dankbarkeit, dass sie auf Erden weile. Das Mondlicht schwamm in ihren Augen, sie gab mir einen kleinen Kuss auf meine linke Wange, sie drehte sich und löste sich in Nacht und Silberschleiern auf.

Ich kam zu mir, auf einer Kline liegend, unter den besorgten Blicken des Herzogs Adalgisel. Der Raum bewegte sich gleich einem Schiff in frischem Wind, mir war ein wenig übel. Dann erinnerte ich mich des kleinen Kusses der Ermengundis: Der Raum bewegte sich noch immer, ich sah den Herzog doppelt wie einen Zwillingsgeist, und dennoch war ich glücklich.

Sie haben mich in mein Haus zurückbegleitet und meinen Dienern übergeben. Sie versprachen, sich täglich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen und mich oft zu besuchen. Ermengundis lächelte und winkte noch zum Abschied. –

Vielleicht ist nun ein guter Zeitpunkt, an die Überquerung des Fluss Styx zu denken und die Münze für Charon bereitzuhalten.

Auch das Sterben ist ja eine von den Aufgaben unseres Lebens, schreibt Marc Aurel. Genug also, wenn du auch sie glücklich lösest, sobald sie dir vorgelegt wird.