Marion Kemmerzell

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Gestern, im Jahr 634 - Leseprobe 2


Kell – am Fluss Ruwer   April 615   (Buchseite 180)

Es ist eine schlimme Nacht gewesen. Der Husten hat auf ihrem Brustkorb gelegen wie ein Tier, das die Spitzen seiner Krallen beständig auf den Häuten über ihren Rippen hin und her bewegte. Sie hat das Bellen unterdrückt, solange es ging, sich in ihrer Decke zusammengekrümmt und dann doch laut und hilflos die Pächterin herbeigehustet. Sie sind auf- und abgegangen außerhalb des Hauses, sie hat Hund und Hühner aus dem Schlaf gekläfft, ein feiner Nachtwind ist um sie gewesen, und später lag sie dann und träumte, was, weiß sie nicht mehr.
Nun schreit der Hahn, ein Streifen Licht im Fenster, die Pächterin schläft noch. Und wieder diese Krallen über ihren Rippen. Ermengundis schiebt sich aus dem Bett, schleicht hinaus, vor der Tür würgt es sie, die Pächterin steht schon neben ihr, gibt ihr ein Leintuch, sie hustet und hustet. Rötliche Schlieren und Punkte bleiben auf dem Tuch zurück.

Man muss etwas tun, sagt die Pächterin.
Beten, meint Ermengundis.
Auch, sagt die Pächterin. Ihr seid sehr blass, Herrin.
Nennt mich … Ermengundis, will Ermengundis sagen, doch eine Hustenwelle zerreißt das Wort.
Wollt Ihr leben oder sterben?, fragt die Pächterin, als der Krampf nachlässt.
Wir müssen alle sterben, sagt Ermengundis.
Ich meine: Wollt Ihr jetzt leben oder sterben?
Es ist nur ein Husten, er wird vorübergehen.
Vielleicht, sagt die Pächterin.

Die nächste Nacht ringt Ermengundis um Atem, sie hat Brustschmerzen, ihre Zähne klappern, sie träumt von Richilde, die mit einer Suppe neben ihr sitzt, im Klostergarten hört man die Gurkenschwester, dann treibt der Hustenreiz sie aus dem Bett, der Pächterin in die Arme, bevor sie nach Luft japsend zusammenbricht.

Man muss etwas tun, sagt die Pächterin.


Sie erinnert sich, etwas getrunken zu haben. Und wie alles von ihr abfiel, sie in Wolken versank. Sie sucht den Weg ins Bewusstsein zurück, aber sie kommt nicht an dem Vollmond vorbei. Einem riesigen, goldrosafarbenen Mond vor smaragdenem Himmel. An den Rändern ihres Blicks macht sie Bäume aus, die in den Smaragdhimmel ragen. Sie schließt die Augen, hört ein leises Klappern, wie gegeneinander - schlagende Stücke von Holz oder Knochen. Mit geschlossenen Augen sieht sie einen Hirsch mit goldenem Geweih über die Lichtung schreiten, sie hebt die Lider, um ihm nachzuschauen, Gestalten bewegen sich durch den Wald auf sie zu, das Rappeln stammt von deren Kleidung aus Ästen, Wurzeln und Knöchelchen, kein Laut außer dem melodischen Klimpern. Dem Kopf zweier Gestalten entwächst Astgestrüpp, hinter ihnen landet ein Wesen mit Falkenflügeln, weitere Gestalten, zwei rehköpfige, eine mit Widderkopf, eine mit Wildschweinschädel; der Wildschweinschädel trägt eine Krone.

Sie schläft, flüstert das erste Reh.
Tief und fest, antwortet eine Gestalt mit Asthaaren.
Lasst uns tanzen, nickt der Widder.
Zu Ehren der Mütter und der Damona.
Vergesst den König nicht, grunzt der Eber.
Der ist nur mein Reittier, lacht die Geflügelte.
Verschwinde, grunzt der Eber, ich bin der Fürst, der Held, der König hier!
Lass ihn, sagt die zweite mit Asthaaren zu der Geflügelten.
Er ist mein Reittier, schmollt die Falkenfrau.

Etwas gerät in Bewegung, der Mond wird doppelt, süßlicher Rauch steigt auf, die Gestalten drehen und drehen sich. Da erscheint der Hirsch, nein: Es ist eine geweihtragende Rentierkuh, sie tritt aus dem Wald, gehüllt in das goldrosa Leuchten. Die Tanzenden kommen zur Ruhe, heben die Arme, sie singen,

Damona, Göttin der Quelle und Heilung, singen sie,
komme hierhin und dorthin,
teile und nimm und gib,
Genesung gib unserer Schwester, die Ermengundis genannt wird,
nimm ihr die Krankheit, das Böse von dort, wo sie atmet, und teile mit uns die Gaben des Rauchs aus der heiligen Mistel,
nimm von den Äpfeln und Fischen und Eiern –
Damona, Göttin der Quelle und Heilung,
komme hierhin und dorthin,
teile und nimm und gib
Genesung … –

Die Rentierkuh senkt den Kopf, das ausladende, filigrane Gestänge weist mit den Spitzen auf die Singenden, sie scharrt mit den Hufen über den Moosboden, goldrosa Monde zittern, als wollten sie herabstürzen. Ermengundis spürt etwas in ihren Brustkorb greifen, als zöge man dort die Häute ab, was, weil sie ja träumt, nicht schmerzt, trillerndes Schreien kommt von den Tierwesen, die Monde stürzen. Übelkeit steigt aus Ermengundis’ Magen durch den Hals, ihr Mund gefüllt mit Unverdautem – und Hände, die durch dunkelgrauen Nebel fassen, und dass ihr Körper sie durch ihren Mund verlässt.


Die Pächterin dreht ihr den Rücken zu, ritzt Zeichen in die Holztafel.

Was wünschst du dir, Herrin?

Auf Ermengundis’ Zunge der Geschmack alter Bitternis. Sie räuspert sich. Es riecht nach Äpfeln und nach Marienglöckchen. Die Düfte liegen schwerelos im Raum. Wo ist das Hustentier geblieben? Sie spürt ihrem Atem nach. Ein Hauch, der sich sogleich verteilt und ihren Körper füttert. Das Hustentier hat sich davongemacht.

Nun Herrin: Sag mir, was du dir fürs Leben wünschst.

Die Pächterin hat Augen wie ein Reh. Groß, dunkel, undurchdringlich. Ermengundis setzt sich auf.

Ich habe Durst, sagt sie.
Ich weiß, sagt die Pächterin. Sie legt die Holztafel zur Seite, um einen Krug Tee zu holen.

Die Zeichen auf der Tafel sind Buchstaben nicht unähnlich, aber Ermengundis kann keines entziffern. Ein Zeichen sieht aus wie ein Blitz oder eine kleine Treppe, ein anderes wie ein spitzbrüstiges B. Die Pächterin gießt Tee in einen der Becher mit gewölbtem Boden, die man nicht abstellen kann und daher halten oder austrinken muss.

Trinkt, Herrin. Sie zeigt auf das Treppenzeichen. Dies hier heißt sowulo: Sonne, sagt sie, und dieses, sie legt den Finger auf ein kleines, eckiges o: ingwaz: Gott oder Feuer. Der Herr-Gott kann sich nicht um alles kümmern, sagt sie, glaubt mir, Ermengundis, man muss die bitten, die zuständig sind.

Sie scheint ganz sicher, dass Ermengundis ihr den Heidenglauben nicht verübeln wird.

Ihr atmet, sagt die Pächterin, Damona hat geholfen. Ihr lebt. Was wollt Ihr tun mit Eurem Leben?

Ermengundis streicht über ein spitzes P.

Das bedeutet wunjo: Wonne, sagt die Pächterin. Wisst Ihr, Herrin, was das ist: Wonne?
Seligkeit – Entzücken – Behagen – Glück, Ermengundis lacht. Ich war immer gut darin, Begriffe zu erklären. Nur sie zu fühlen, fällt mir bisweilen schwer.
Seht Ihr? Wollt Ihr euch nicht Wonne in Euer Leben wünschen?
Warum nicht? Schreibt auf: Seligkeit, Behagen, Glück und einen leichten Tod, danach das Himmelreich. – Ihr macht mich wirr. Zu einer Sünderin. Nehmt Eure Tafel, geht.


Am nächsten Tag sieht Ermengundis den Kindern beim Spielen zu. Dann kommt die Nachbarin mit einem Säugling, dem sie die Brust gibt, während die Pächterin Gemüse kocht. Der Nachbarin stehen die Haare wie Astgestrüpp vom Kopf ab, bis Ermengundis zweimal gezwinkert und sich leicht geschüttelt hat. Die Sonne scheint. Sowulo, denkt Ermengundis.
Sie schlendert durch den Ort. Auf den schmalen Feldern sprießen erste Reihen Dinkel. Das Grün der Pflanzen bedeutet Fruchtbarkeit und Zukunft. Die Frauen ihres Alters und ihres Standes sind Nonne oder Ehefrau. Sie wird als Jungfer sterben. Man wird behaupten, sie hätte sich dafür entschieden. Hat sie das? Sie denkt an Moduald. Erschrickt. Die Pächterin hat ihr das Hustentier genommen und dafür Träume in sie hineingegeben. Sie fühlt sich enger mit der Welt verbunden als zuvor. Wenn sie der Pächterin nun sagte, dass sie Äbtissin werden möchte, wäre das gelogen. Seit dieser Traumnacht vor zwei Tagen wäre es gelogen. Sie geht Richtung Wald. Ein Mann, der Pächter, läuft ihr nach.

Es gibt dort Bären, sagt er, Ihr solltet nicht alleine gehen.


Ich wünsche mir ein Kind.
Was noch?, fragt die Pächterin. Sie ritzt die Zeichen beim Schein einer Kerze.

Ermengundis lacht. Wenn ich mir den Mann, den es dazu braucht, noch aussuchen kann, so ist das mehr, als mir zusteht, denke ich.
Die Pächterin schaut hoch. Ich verstehe Euch nicht, Herrin. Jeder Frau stehen Mann und Kinder zu.

Nicht denen, die Gott lieben, ihm geweiht sind.
Seid Ihr denn Gott geweiht?
Ich bin Diakonin.
Das weiß ich, Herrin. Darf eine Diakonin denn nicht heiraten?
Es wird nicht gern gesehen.
Doch, wenn Ihr wollt, ist es erlaubt?
Nun ja.
Und liebt Ihr Gott?

Mir ist, als gäbe es ihn gar nicht, denkt Ermengundis. Er ist aus dieser Welt verschwunden, seit Maman den Arm gehoben und ihre Krankheit offenbart hat. Möglich, dass eine andere Gottheit hätte helfen können. Der Herr-Gott sieht mein Herz, er hat mich schon verworfen. Wie soll ich ihn dann lieben?

Vielleicht – vielleicht auch nicht, sagt sie, er ist so groß und fern.
Ich dachte, Ihr hättet Mittel, ihn herbeizurufen, sagt die Pächterin. Ich bin als Kind einmal in Trier gewesen. In einer dieser übergroßen Kirchen. Ein Gottesdienst voll Inbrunst mit Weihrauch und Gesang. Ich wartete auf sein Erscheinen. Dann nahm mich meine Mutter bei der Hand und sagte, dass dieser Gott sich selten sehen lasse. Wir hätten keine Zeit, so lang zu warten.
Es gibt Menschen, die ihn gesehen haben, sagt Ermengundis. Talg löst sich vom Kerzenrand und tropft in die Schale darunter, als weinte das Licht heiße Tränen. Während eines Gottesdienstes, einer Meditation, einer Gebets- oder Fastenübung, sagt sie. Manchen ist er einfach so erschienen. Vielleicht bin ich nur nicht stark genug, den Kopf zu heben und zu ihm aufzuschauen. Er ist ein mächtiger, unnahbarer Gott, scheint mir.
Er liebt uns nicht, meint die Pächterin. Wir sind ihm gar nicht wichtig, denke ich. Er ist zu weit entfernt von uns, um jeden Einzelnen zu sehen. Vielleicht, dass große Güte oder große Schlechtigkeit an seinen Mantel rühren, dort oben in den Himmeln, doch hier auf Erden gibt es andere, die man bitten kann, zu helfen.
Er wird uns strafen, für das, was wir hier reden, sagt Ermengundis.
Mag sein, die Pächterin zuckt mit den Schultern, vielleicht ist er derjenige, der straft.

Ermengundis steht auf; eine Hand auf dem Tisch, lehnt sie sich zu der Pächterin.

Schreib, sagt sie, dass ich ein Kind will und einen Mann dazu, den ich von Herzen liebe, und alle Wonne hier auf Erden, und Seligkeit im Himmelreich. Geht das auf deine Tafel?
Die Toten sprechen nicht sehr oft mit uns, das mit dem Himmelreich ist ungewiss, doch wünschen kann man, was man möchte, und diese Wünsche dann der Erde und an die Götter geben – und hoffen.
Dann will ich hoffen. Und nun muss ich hinaus, um Luft zu holen.
Bleibt Herrin, es ist doch Nacht und es gibt Bären, die bis vor die Häuser kommen.
Ich muss hinaus, schreib du derweilen meine Wünsche auf. Wenn mich ein Bär zerfleischt, so ist das Gottes Wille, und es geschieht mir recht!


Wie lange ist es her, dass sie sich so am Leben fühlte? Sie breitet ihre Arme in die Aprilnacht. Ein schmelzender Vollmond. Ostern liegt spät in diesem Jahr. Die Auferstehung Jesu wird an einem Sonntag nach Tagundnachtgleiche, dem Frühlingsanfang, zelebriert. Eine Vollmondnacht sollte zwischen Äquinoktium und Ostern liegen, hat Venantius gelehrt, bedauerlich, dass man sich noch nicht verbindlich auf ein gemeinsames Datum habe einigen können. Sie weiß nicht, wann Moduald sein Ostern feiern wird. Vielleicht schon nächste Woche? Sie legt ihren Kopf in den Nacken, lässt sich vom Mondlicht bescheinen. Der Mond hat ein paar dunkle Flecken. Wenn er aus Silber wäre, müsste man ihn putzen, denkt sie und lacht. Sie hat eben ihre unsterbliche Seele dem Versucher überantwortet. Wach auf, Ermengundis, sagt sie sich, geh hinein und heiße die Pächterin deine Wünsche von der Tafel kratzen. Vielleicht, dass mit Bußübungen und Fasten noch etwas zu retten ist von Gottes Gnade. Sie lacht wieder. Wenn Gott in ihr Herz sieht, ist alles verloren – und wenn nicht, ist er nicht der Gott, für den sie so lange gelebt hat. Sie fühlt sich frei! Sie wendet sich entschlossen dem Weg zu, der in den Wald führt, geht, bis kein Mond mehr zu sehen ist, nur noch atmende Schwärze, bisweilen ein Windstoß, der den knarrenden Bäumen die Blätter verweht und Licht auf den Waldboden schüttet. Eine Eule schreit. Augen leuchten auf und verschwinden. Was will sie hier? Sie stolpert über eine Wurzel. Hört, wie etwas näher kommt. Ein Schnauben, scheint ihr, Hufe oder Pfoten, die Unterholz zertreten. Was will sie hier? Den Tod versuchen? Jetzt, da sie ihre Seele der ewigen Verdammnis preisgegeben hat! Wie schnell das Rascheln, Knacken, Schnaufen größer werdend auf sie zu kommt. Und hinter sich vom Waldrand her hört sie die Rufe. Herrin!, ruft man. Wo seid Ihr, Herrin!?! Eine Fackel macht sich auf den Weg zu ihr. Sie steht ganz still und fragt sich, wie sie diese Leute, von denen sie großherzig behütet und umsorgt wurde, so mutwillig in Angst versetzen konnte. Und – wenn das Ungeheuer sie in Kürze zerreißen wird, dann müssen diese Leute ihre Reste dem Bruder Grimo übergeben – wie grausam sie zu denen ist, die ihr nur Gutes tun. Dann kommt ein Schwall Kadaveratem des Bären bei ihr an. Der richtet sich zu seiner vollen Größe auf – und jede Überlegung löst sich auf in Panik, ihr Herz füllt ihren Körper mit Tausenden von kleinsten Schlägen, sie möchte rennen und erstarrt, sie möchte schreien und verstummt, der Pächter mit der Fackel ist gleich bei ihr.