Marion Kemmerzell

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Gestern, im Jahr 634 - Leseprobe 1


Grimo - Verdun im Herbst des Jahres 6oo nach Christus - (Buchseite 85)

'Obsculta, o fili, praecepta magistri, et inclina aurem cordis tui, et admonitionem pii patris libenter excipe et efficaciter comple', trägt Venantius ohne Stocken vor. Er spreizt beim Reden den kleinen Finger von der linken Hand, was, wie Grimo durch verbotenes Schielen nach anderen Jungen feststellen kann, nicht nur er weibisch findet. Darüber hinaus legt Venantius einen Singsang in seine Stimme, sobald er zu einem Vortrag ansetzt, und scheint nur mühsam das Mitschwingen seiner Hüften zu unterdrücken. Die Tatsache, dass er stets bestens vorbereitet ist und fast immer alles weiß, trägt ebenfalls nicht zu seiner Beliebtheit bei. Möglicherweise war es wichtiger, beliebt zu sein, als die vom Abt und den lehrenden Brüdern geforderte Leistung zu erbringen. Vielleicht lief das ganze Leben auf die Beantwortung eben dieser Frage hinaus: Beliebtheit oder Leistung - Pflichterfüllung, Gehorsam, Fleiß, Demut, all das? Vielleicht aber war es auch nicht immer ein Widerspruch.

Danke, Venantius, sagt Bruder Desideratus. Venantius schließt den Mund, der schon zum Weiterreden offen stand, wie bei einem nach Luft schnappenden Fisch. Bruder Desideratus lässt den Blick über die gesenkten Köpfe gleiten.

Herpo, sagt er, übersetze bitte, was uns Venantius vorgetragen hat.

Herpo steht mühsam auf. Höre, . . . - , beginnt er, -

Ja, - ich höre -, sagt Desideratus, weiter: o fili - ?

Mein Sohn, schnauft Herpo, -

praecepta magistri, et inclina aurem cordis tui -, Desideratus beugt sich vor, weiter, Herpo, sagt er, - praecepta magistri -?

. . . Meister . . . Regeln . . . , Herpo nagt an seiner Unwissenheit.

Danke, Herpo, Desideratus lässt einen feinen Stock auf sein Pult klacken. Du wirst mir morgen den gesamten Prolog der Regel aufsagen – und weil Gott gnädig ist: in unserer Sprache, nicht auf Latein – solltest du fehlen, wirst du von den nächsten Mahlzeiten ausgeschlossen. Also, Richar: praecepta magistri, et inclina aurem cordis tui -?

. . . auf die Weisung des Meisters, . . . neige das Ohr deines Herzens, antwortet Richar dem Desideratus und wird dabei rot, und Grimo versteht nicht warum Richar errötet, obwohl er doch die Antwort weiß.

Gut, Desideratus lächelt. Zur Erleichterung aller befindet er, dass sie es für heute damit bewenden lassen wollen.

Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr deines Herzens, nimm den Zuspruch des gütigen Vaters willig an und erfülle ihn durch die Tat!, murmelt Venantius vor sich hin.


Durch das winzige Zellenfenster strömt ein kalter Luftzug, der die Kerze auf seinem Arbeitstisch flackern lässt. Er hat versucht das Fenster mit einem Brett zu verschließen, aber scheinbar fehlt ein Teil des hölzernen Riegels, so dass das Brett immer zur Seite wegkippt. Der unruhige Kerzenschein erschwert das Lesen, zu dem er sich ohnehin kaum zwingen kann, er betrachtet das Flackern, er friert, er ist hundemüde. Zur achten Stunde der Nacht – also in tiefster Dunkelheit – hat man sie aus dem Schlaf gerissen, wie die Seelen Verstorbener sind sie zur Kirche gewankt, in ihre Reihen gerückt, auf die Knie gesunken, und dann Gesang und Psalmen und wieder Gesang und Lesungen, von denen nur eine, die von Bruder Desideratus vorgetragene, ihn hat aufmerksam werden lassen, was wohl eher der klaren Stimme des Bruders, als dem Inhalt des Gelesenen zu verdanken war, dann wieder Singen und Aufstehen und Niederknien. Und statt dass man ihnen anschließend erlaubt hätte, auf ihre Strohsäcke zurückzukehren, hieß es, die verbleibenden Stunden dieser Nacht zum Studium der Schriften oder Aufgaben zu nutzen, um später, noch vor dem Frühstück, in der kalten Kirche einem morgendlichen Lobgesang zu lauschen. Er hätte heulen können, wenn er daran dachte.

Ut ad eum per oboedientiae laborem redeas, quält er sich, - ut ad eum per oboedientiae laborem redeas - So kehrst du durch die Mühe des Gehorsams zu dem zurück - per oboedientiae laborem - durch die Mühe des Gehorsams -

Er fragt sich, warum ihm damals der Unterricht in Trier, der immerhin mit seiner Fähigkeit zu schreiben, zu lesen und mit spärlichen Kenntnissen des Latein beendet worden war, so viel Unbehagen bereitet hatte. An hellen Tagen, vor einem guten Essen, vor Spielen und anderen Zerstreuungen, war für drei Stunden ein Lehrer in ihr Haus gekommen, ein freundlicher Herr, der ihn beim geringsten Anlass lobte, der bereits Ado und auch die Kinder Bischof Gunderichs unterrichtet hatte, und der nach dem Essen zu Moduald hinüberging, um ihm Griechisch beizubringen, was Moduald für sinnlos hielt, wie er auf der Straße verlauten ließ, zum einen, weil Moduald nicht meinte, diese Sprache jemals zu benötigen, zum anderen, weil er nicht darauf hoffte, sie jemals zu beherrschen.

Krumme Buchstaben mit Häkchen und Schlaufen und kleinen Schwänzen, ba! Wozu? Will ich die Bibel nochmals übersetzen, wie mein Vater zu glauben scheint?

Damit du Bischof werden kannst, hatte Ado gewitzelt, episkopos - du siehst, auch ich bin nicht ganz ahnungslos -, damit ein Glorienschein von Bildung und Heiligkeit um dich weht, für alle Fälle, wenn, wie zu befürchten ist, kein großer Krieger aus dir wird. Und Moduald hatte nach Ado, der einen Kopf größer war als er, getreten, und der hatte ihn sich lachend vom Leib gehalten und episkopos-episkopos geträllert. - Was für eine wunderbare Zeit war das gewesen, welch angenehmes Lernen! -

Er schreckt hoch: Grimo, hat jemand gerufen. Bruder Desideratus steht in der Tür,

Komm Grimo, Zeit für die Laudes, und lösche die Kerze, und du solltest einen Mantel tragen beim Lernen und in der Kirche. Es wird Winter, Gott hat nichts davon, wenn du krank zu Bett liegst.

Die Laudes. Das Singen von Psalmen im Wechselgesang der Mönche. Winterliche Dunkelheit, Schwärze in den kleinen runden Fenstern. Kerzenlicht, Wachsgeruch und der Geruch seiner Mitschüler. Er schiebt sich ein wenig an den sauberen, nicht riechenden Venantius heran. Ein Lied aus der Bibel wird gesungen. Das Canticum stammt nicht aus dem Buch der Psalmen, hat man sie belehrt, vielleicht wird er in einer fernen Zukunft auch die Worte verstehen, die da gesungen werden. Nun folgen Lobpsalmen, eine Lesung aus den Briefen des Apostels Paulus, ein Antwortgesang: das Responsorium, ein Hymnus des Ambrosius, der Versikel, das Canticum aus dem Evangelium, die Litanei und der Abschluss: das Gebet des Herrn. Es ist seine zehnte Laudes, er kennt inzwischen den Ablauf, der sich an den Wochentagen und Sonntagen unterscheidet. Die Gesänge versetzen ihn bisweilen in einen Zustand, in dem er weder schläft, noch wach ist, einen angenehmen Zustand ohne Langeweile, Müdigkeit und Hunger. Seine Füßen scheinen den Boden kaum zu berühren, sein Körper gleicht eher einer Wolke, die sich an den Rändern auflöst, und bevor er wieder in die wache Gegenwart zurück findet, denkt er lieber an etwas Schönes oder Spannendes, an das Gefühl, auf dem Floß durchs Mosellawasser zu pflügen oder an Bilichilde auf dem Brunnenrand, wie sie ihren Rock über die weißen Schenkel nach oben schiebt. - Nun das Gebet des Herrn, sie knien nieder, . . . Et ne nos inducas in tentationem, sed libera nos a malo. Amen – Und führe uns nicht in Versuchung . . .


Der Tag des heiligen Martin mit Schweine- und Gänsebraten, Gemüsen und Pilzen, Äpfeln, Birnen und getrockneten Weinbeeren, Honiggebäck und verdünntem Würzwein.

Danach die Fastenzeit.

Herpo wird vor der Laudes am Sonntag in der Küche ertappt, wo er, auf der Suche nach Essbarem, eine Schüssel vom Tisch gestoßen und zerbrochen hat. Die sonst übliche erstmalige Ermahnung im Geheimen muss angesichts des Schadens und des Lärms durch seine Verfehlung unterbleiben, und er wird ab sofort von den kargen Mahlzeiten ausgeschlossen. Die Verschiedenheit der Fehler bewirke eine Verschiedenheit der Buße, erklärt Abt Vitonus, ein Schlemmer werde mit Fasten bestraft. Jeder, der an Herpos Fastenzelle vorbeikomme, solle nach ihm schauen, ob er sich nicht unerlaubt daraus entfernt habe. Einmal am Tag wird ihm ein Krug Wasser und ein kleiner Laib Brot gebracht. An den gemeinsamen Gebeten und der Schule soll er dennoch teilnehmen. Nach drei Tagen kippt er während der Laudes vornüber und bewegt sich nicht mehr. Bruder Desideratus, der ihn damals - weil Gott gnädig ist - den Prolog der Regel am nächsten Tag nicht hat aufsagen lassen – Gott sieht in dein Herz, Herpo, er weiß, dass du dein Möglichstes getan hast – Bruder Desideratus also zieht ihn vom Boden hoch und trägt ihn mit Hilfe Cousin Arnoulfs aus der Kirche. Am Abend beobachtet Grimo, wie Herpo, gestützt auf einen Mann in pelzbesetztem Mantel, den Gang entlangschlurft, und weil er, Grimo, sich der Neugier schuldig macht, und sich, während er zum Fenster läuft, befragt, ob Neugier eine Sünde oder nur ein kleineres der Laster ist, kann er sehen, wie Herpo mit dem Mann zum Tor hinaus und auf die Straße tritt, wo der Mann dem Herpo in einen kleinen Reisewagen hilft und mit ihm in die Richtung der Stadt Verdun davonfährt. Später kann er, Grimo, vom Küchenmönch erfahren, dass Herpos Vater ein Senator und dem Freundeskreis der Bischofs Charimeres zuzurechnen sei.
Man wird den armen Herpo nun zu Hause unterrichten, sagt der dünne Küchenmönch, man wird ihm soviel zu lernen und zu essen geben, wie er möchte, und Herpo wird als ignoranter Kloß sein Leben fristen müssen.


In der Zeit des Fastens solle man seinem Leib etwas an Speise, Trank und Schlaf entziehen und auf Geschwätz und Albernheiten verzichten, mit geistlicher Sehnsucht und Freude dabei das heilige Geburtsfest Jesu Christi erwarten; das, in etwa, hat Abt Vitonus auf sie herabgesprochen. Diese Wochen bis zum Geburtstag Jesu, man durfte sie auf keinen Fall in Tagen zählen wie Herpo. Der hatte schon am zweiten Tag gestöhnt:

Noch 41 Tage! Wie soll ich schreiben, lernen oder gar Gott lobpreisen, wenn ich nur an Dinkelbrei mit Speck und Eiern denke? - Er, Grimo, kommt mit den dünnen Suppen aus. Er träumt zwar auch von den gegrillten Fischen, die sie am Mosella-Ufer gegessen haben oder von den Speisen, die Montana in Trier bereitet hat, doch die Sehnsucht dieser Träume gilt nicht nur dem Essen, sie gilt dem Leben damals, das sich in seinen Träumen so unbeschwert und glücklich anfühlt.

Über Arnoulf erreichen ihn manchmal Nachrichten aus Metz. Sein Vater lebt!

Sein Vater lebt – noch.

Wir sollen für ihn beten, sagt Arnoulf. Palatina, unserer gottesfürchtigen und lebensklugen Tante ist gelungen, einen Wagen zu beschaffen, um Maurilius und zwei seiner Gefährten, die er unter keinen Umständen zurück in Schmutz und Schlamm hat lassen wollen, nach Troyes zu karren, wo sie mehr tot als lebend angekommen sind. Und Palatina wird Ärzte und Möglichkeiten finden, falls Gott nichts anderes beschlossen hat, die ihrem Bruder, deinem Vater, meinem Onkel, wieder auf die Beine, zu Kräften und Gesundheit helfen werden. Um Gottes Gnade zu erlangen, denkt sie an eine Schenkung zu Ehren des heiligen Lupus und lässt dich, Grimo, nach deinem Einverständnis fragen, ein weiteres Dorf, das Dorf Molendinum an der Straße von Verdun nach Metz, das sich zu gleichen Teilen im Besitz der Kinder unseres Großvaters Gallus Magnus findet, zu veräußern, um die Schenkung auszustatten und die Ärzte zu bezahlen.

Grimo fragt sich, und dann fragt er Arnoulf, ob ein solch richtiges, ehrbares und gottgefälliges Vorgehen seiner Zustimmung bedürfe, und Arnoulf meint, dass Palatina dies mit Oda, so wie die Dinge im Moment den Anschein hätten, wohl allein entscheiden könnte, doch sei es für die Gnade Gottes, die durch die Schenkung ja befördert werden solle, nicht unerheblich, dass alle, die davon betroffen seien, sie reinen Herzens billigten. Und zur eigenen Überraschung fühlt Grimo ein Nagen in der Brust, nicht, weil er nicht in alles einzuwilligen bereit gewesen wäre, das dem Leben und der Gesundheit seines Vaters nützen könnte, sondern weil es ihn zu fragen drängt, wer denn an Stelle des heiligen Lupus, der ja bereits ein Heiliger und tot ist, in den Besitz des Geldes kommen soll, das Palatina stiften möchte, und da er diese Frage nicht stellen will und wird, nun dieses Einverständnis, dieses laute Ja, nicht reinen Herzens von seinen Lippen kommt.


Dass er körperliche Arbeiten verrichten muss, ist neu für Grimo. In Trier waren dafür Knechte, Mägde und die Bauern zuständig. Er geht vornübergebeugt unter den Reisigbündeln auf seinem Rücken. Eigentlich sind ihm Gänge oder Arbeiten außerhalb seiner Studierzelle lieber, als die Mühen des Lernens, aber nachdem er Stunden zusammen mit Richar, der immerhin ein Jahr älter und etwas größer ist als er, nach Feuerholz gesucht hat, und dabei auf Bäume steigen und Äste brechen und zerkleinern musste, weil der Boden von den Schweinehirten und anderen Bewohnern des nahen Dorfes schon beinahe leergesammelt war, ist er erschöpft. Ein feiner Schneeregen liegt in der Luft, aus den Ackerfurchen steigen Saatkrähen ins Graue, ihr Geschrei macht ihm Angst, ohne dass er sagen könnte warum, bis zum Kloster ist es noch ein gutes Stück zu laufen, und seine Beine wollen unter der ungewohnten Last nachgeben.

Ich kann nicht mehr, sagt Richar neben ihm.

Es ist doch nicht mehr weit, antwortet er ihm.

Richar lässt die Bündel von seinem Rücken rutschen, hockt sich auf den Ackerboden und vergräbt den Kopf in den Armen.

Mann, sagt Grimo und lässt auch seine Bündel auf die dunklen Schollen gleiten, Mann! Er schnauft, sein Atem, wie Rauch, ist gerade noch zu sehen; Mann, Richar, hoch mit dir!

Richar schaut ihn an, sein Gesicht glitzert, vielleicht von der feuchten Luft.

Das Leben hat keinen Sinn, sagt Richar. Du wirst geboren, du plagst dich, und dann stirbst du. Du darfst nicht essen, wenn du Hunger hast, du darfst nicht lieben, wen du liebst.

Unsinn, sagt Grimo, natürlich darfst du lieben, wen du liebst, es kann nur sein, dass du sie nicht heiraten darfst.

Du hast ja keine Ahnung, sagt Richar. Er steht wieder auf und lädt sich seine Bündel auf den Rücken. Sie stapfen weiter.

Und was ist mit Gott und seiner Gnade?, fragt Grimo.

Ich weiß nicht, er kommt mir ziemlich unbarmherzig vor, sagt Richar. Im Dunst werden die Umrisse ihres Klosters sichtbar, die Fackeln am Eingangstor.

Wenn Gott gerecht und gnädig wäre, sagt Richar, könnte ich dich auf meinen Königshof nach Cambrai laden, den Chlodwig seinem Vetter, dem Vater meiner Urgroßmutter durch Verrat und Hinterlist gestohlen hat. Richar schnauft. Ragnachar, sagt er, hat mit Chlodwig Syragius besiegt, den letzten Römer, der in unserem Land noch herrschte, und Chlodwigs Dank war Lug und Trug und Mord. Gott hatte, warum auch immer, Chlodwig gegen die Alamannen beigestanden, weshalb der sich hat taufen lassen, und Gott war dann wohl auch auf seiner Seite, als er meinen Ahnherrn Ragnachar und dessen Brüder Richar und Rignomer aus ihren Häusern zerren und erschlagen ließ. - Und weil ich so denke, wie ich denke, seufzt Richar, bin ich der Verdammnis anheimgegeben, dem ewigen Feuer und der Finsternis mit Heulen und Zähneklappern und mit Angst und Schmerzen, die niemals enden. Weil ich so denke, und auch aus anderen Gründen, die ohne mein Wünschen und Zutun sind wie sie sind.


Der dünne Mönch, der sie des Holzes wegen in den Wald geschickt hat, ist sehr erleichtert, als sie in seine Küche stolpern.

Wo wart ihr denn so lange, Kinder? Die Vesper ist schon gebetet und danach die Fastenspeise ausgeteilt worden. Ich darf euch aber noch Suppe geben, weil ihr in meinem Auftrag unterwegs gewesen seid.

Sie hocken am warmen Feuer in der Küche, hören auf das Knacken der Scheite, löffeln ihre Brühe; Vielleicht ist das ewige Feuer eher so wie dieses hier, sagt Grimo.

Dass ich nicht lache, sagt Richard. Wir sind schon vor unserer Geburt zur Gnade oder zur Verdammnis vorherbestimmt, das predigt nicht nur Abt Vitonus, das ist beschlossene Wahrheit, in der sich Papst und Bischöfe einig wissen. Es gibt auch andere Meinungen, doch die sind Ketzerei. Zum Beispiel hat Origines, Sohn eines Märtyrers, ein hochgelehrter Mann aus Alexandria, geschrieben: am Ende würden alle Menschen mit Gott vereinigt und sogar Diabolus könne gerettet werden. Richard beugt sich vor, spricht leise, Ich habe ihn gesehen, sagt er, Diabolus. Während der Fastenzeit vor Ostern. Ich hatte Fieber, und eines Nachts stand er in meiner Krankenzelle. - Sein Kopf ist der eines eisernen Rabens, sein Körper behaart wie der eines Bärs, Beine und Arme sind nackt und schuppig wie bei einer Schlange, und er hat die Klauen eines riesigen Vogels.

Grimos Löffel sinkt von seinem Mund in den Suppenteller zurück. Dass Montana Geschichten erzählt ist das eine, aber ein Mitschüler hier im Kloster, der den Teufel gesehen haben will.

Bist du sicher?

So wahr ich hier sitze, meint Richar.

Mann!, sagt Grimo. Und zum eigenen Unbehagen spürt er Neid, dass er den Teufel auch gerne selbst gesehen hätte.